Die Lebensweise

 
Einige Gebräuche

Wie erwähnt, bewohnen die Urier ein Ländchen, das durchaus seine geheimnisvollen und unheimlichen Seiten hat. Zum Schutze der Bevölkerung spielen die wenigen Burgen Uriens eine besondere Rolle. Zum Beispiel ziehen sich die Urier während der Paarungszeit der Trolle hierher zurück. Diese ist in Urien aber nicht nur ein Grund zur Furcht: In der Vorstellung der Urier macht das Treiben der Trolle ihre Erde erst fruchtbar. Aus diesem Grund hat sich um die Trollnacht eine Anzahl von Bräuchen entwickelt, und auf den Burgen werden ausgelassene Frühlingsfeste gefeiert. Neben dem Frühlingsfest ist das grosse Sauerkrautstampfen im Herbst der zweite grosse Festtag im Jahresablauf, der in ganz Urien begangen wird. Daneben gibt es eine fast unüberblickbare Anzahl von lokalen oder regionalen Gebräuchen und Feiern. Die meisten Bräuche beziehen sich jedoch auf einen der unzähligen Dreiviertelgötter und die mit ihm oder ihr zusammenhängende Legende.

So geht zum Beispiel das alljährliche Scheunenverbrennen in Ohmingen auf den Dreiviertelgott Hans zurück. Hans löschte das Feuer in der Scheune seiner Grossmutter, indem er sie mit frischeingemachtem Sauerkraut vollständig bedeckt. Bei der Nachempfindung dieser Geschichte wird ein Nachbau dieser Scheune angezündet und dann gelöscht, indem die jungen Burschen und Mädchen ihn aus einiger Entfernung und unter Zuhilfenahme ihrer Heugabeln mit Sauerkraut bewerfen.

Die Religion

Mit der Religion in Urien verhält es sich so:

Die Urier kennen 11 Götter. Diese sind Naturgottheiten; man stellt sie sich teilweise als Personen vor, aber es wird immer angenommen, dass die Gottheit in den Gegenständen oder natürlichen Elementen steckt, denen sie entstammt. Jedermann und –frau kann mit den Göttern kommunizieren, indem man sie anruft oder ihnen kleine symbolische Geschenke bringt; dies muss an einem Ort geschehen, der sich der Gottheit zuordnen lässt (also z.B. im Wald, um den Holzgott Wudda anzurufen). Üblicherweise tun dies die Urier jedoch vor allem gemeinschaftlich und im Rahmen von Ritualen, die durch die Tradition eine feste Form angenommen haben. Diese « Feiern » haben ihren festen Platz im Jahresrhythmus. Daneben gibt es ebenfalls Feiern für den Lebenslauf jedes einzelnen Uriers, für die Zeitpunkte der Geburt, Pubertät, Hochzeit, Alter und Tod. Den Göttern ist dabei neben einem Naturelement oder Hauptprinzip jeweils eine Anzahl von Bereichen zugeordnet, für die er oder sie « zuständig » ist; so dass bei den Lebenslauf-Feiern oder bei Anrufungen zwischendurch, sorgfältig ausgewählt werden muss, welche Gottheiten jetzt gerade am wichtigsten sind.

 

Die Götter heissen :

Erdgöttin Grunda (Fruchtbarkeit, Nahrung; Tiere und Pflanzen)

Steingöttin Quarza (Beständigkeit, Wille)

Holzgott Wudda ( Vielseitigkeit, Formbarkeit; Wärme und Energie)

Wassergott Ohaha (Gewandtheit, Schnelligkeit)

Metallgott Hamma (Härte, Kampf)

Luftgöttin Era (Flüchtigkeit, Vergänglichkeit)

Wegegott Wandra (Wanderung, Führung)

Hausgott Dohma ( Schutz, Lebensmittelpunkt)

Gesundheitsgott Wunda (Krankheit, Heilung)

Arbeitsgott Schuffta (Fleiss, Strebsamkeit, Erfolg)

Geschichtengott Stussda (Ideen, Kunst, Musik; Lachen und Fröhlichkeit)

 

Da die Gottheiten sozusagen einen « festen Platz » in den wichtigen Ereignissen des Lebens haben, und von ihnen angenommen wird, dass sie grundsätzlich gerecht sind und auf Anrufungen hören, stehen die Urier häufig ratlos da, wenn etwas unerwartetes geschieht. Sie führen alles Böse auf die Existenz eines hässlichen, stinkenden, gemeinen und vor allem unglaublich fiesen und grausamen, gott-ähnlichen Wesens zurück. Dieser Monstergott, Gogal genannt, stört die Arbeit der Götter und damit den Lauf der Dinge und damit schlussendlich den ganz gewöhnlichen Alltag der Urier. Von der schlimmsten Katastrophe bis hin zum gewöhnlichen Missgeschick, Gogal ist Schuld. Viele Geschichten über die Dreiviertelgötter handeln davon, wie Gogal in seiner eigentlichen Gestalt oder in der Form eines Menschen, Wesens, oder Naturkraft, die er angenommen hat, besiegt wird. Gogals Name wird häufig als Fluch benutzt (z.B. « bei Gogals stinkendem Furz, das darf doch nicht wahr sein). Seinen Namen mit einem Schimpfwort in Verbindung zu bringen, gilt als schwere Beleidigung (z.B. « deine Mutter ist Gogals Hure! »). Sein Diener und Bote ist der boshafte Lästerer Brutzka.

Dreiviertelgötter

Für ihre Alltagsprobleme, damit ihnen etwas gut gelinge und um sich vor dem Wirken des fiesen Gogal zu schützen, rufen die Urier allerdings viel häufiger ihre Dreiviertelgötter an als die 11 Götter. Dreiviertelgötter waren einstmals gewöhnliche Menschen, die in ihrem Leben aus eigener Kraft, Geschicklichkeit, Klugheit, oder auch durch pures Glück oder mit Hilfe der Götter, eine besondere Tat vollbracht haben. Neben dem Sieg über Gogal geht es dabei häufig um die Rettung aus Gefahr, jedoch auch landwirtschaftliches Geschick (z.B. die berühmte Gärtnerin Brusmerda, sie züchtete unter anderem blaugefärbte Rüben, die nach Honig schmeckten), erfolgreiche  Jagd (z.B. Joohn, er erschlug einen Bären) oder andere Talente (so sagt man vom Sänger Pif, sein Gesang hätte sogar eine wilde Koboldfrau in den Schlaf gewiegt) können einen zum Dreiviertelgott machen. Solange eine solche Person lebt, ist sie nicht viel mehr als ein sehr berühmter Mensch. Manche wirken einfach im Stillen, oder erleben nur ein einziges besonderes Erlebnis, andere sind zu Lebzeiten berühmt und werden von weither aufgesucht, wenn sie ein Talent haben, von dem sich die Urier Hilfe erhoffen. Man könnte sie als Halbgötter bezeichnen, obwohl die Urier selbst das nur selten tun. Nach ihrem Tod oder Weggehen zu den Alten fangen die Urier an, sie als Dreiviertelgott zu verehren und in schwierigen Situationen um Hilfe anzurufen (natürlich gilt es auch hier, den richtigen Dreiviertelgott für die Situation zu finden). Ihre Geschichte wird im ganzen Land wieder und wieder erzählt. Da diese Tradition seit Jahrhunderten zur Urischen Religion gehört, die Urier nichts mehr lieben, als immer wieder neue und alte Geschichten zu hören, und jede Region in Urien auf ihre einheimischen Dreiviertelgötter ganz besonders stolz ist, ist die Zahl der Dreiviertelgötter unüberschaubar geworden, auch für die urischen Geschichtenerzähler selbst. Ziemlich genau benennen lässt sich aber die Zahl der aktuellen « Kandidaten ». Der Halbgötter, die im Moment in Urien leben, es sind genau fünf :

- Yunna, die Tochter von Iv, aus Oppingen, sie hat dreimal Drillinge geboren

- Fred, der Sohn von Jossi, aus einem kleinen Bergleutedorf; er hat 7 Bergleute aus einem einstürzenden Schacht gerettet

- Ormo, der Sohn von Ormo, aus Urch; seine geschnitzten Statuen wirken, wie wenn sie lebendig wären; seine Trollfigürchen werden zur Steigerung der Fruchtbarkeit auf die Felder gestellt

- Jehanna vom langen See; die Leute munkeln, sie schwimme mit dem grossen Hecht; wenn sie dabei ist, sind die Netze doppelt so voll wie sonst

- Madri aus dem Weiler Altenbaum. Als er in den Wald ging, begegnete er einem von Gogal besessenen Streifenrüssler, der ihn in einen Abgrund werfen wollte. Aber Madri war schlau und lenkte den Streifenrüssel immer wieder durch das Herumwedeln mit seiner Mütze ab, bis das Tier so müde war, dass der starke Madri es reiten konnte!

Die Gesellschaftsform der Urier : Die Grossfamilie

Die Gesellschaftsform in Urien beruht auf der Lebensweise der meisten Urier : Kleine, eng zusammenhaltende Dorfgemeinschaften, die meistens aus wenigen Grossfamilien bestehen. Meist ist eine ganze Region, die sich durch natürliche Grenzen definieren lässt, wie zum Beispiel ein Tal, fast ausschliesslich von den Mitgliedern von 3 – 4 Grossfamilien bewohnt, die sich auf die Dörfer und Weiler verteilen. Die Familien bewohnen grosse Gehöfte mit einem Haupthaus und im Halbkreis darum angeordneten Wirtschaftsgebäuden und Ställen. Steht das Gehöft ausserhalb eines Dorfes, ist es befestigt. Die Gebäude sind aus Holzbalken, Weidengeflecht und Lehm; teilweise sind die Haupthäuser zweistöckig aus Stein gebaut mit einem unzugänglichen Erdgeschoss ohne Fenster. Dies ist vor allem dort der Fall, wo die Urier traditionsgemäss oder aktuell Bedrohungen fürchten, das heisst, in den Augen der Urier : In trollreichen Gebieten; überall wo Fremde vorbeikommen, also im Grenzgebiet und in der Nähe der grösseren Strassen; und dort, wo die nächste Dorfgemeinschaft hauptsächlich aus fremden Grossfamilien statt aus eigenen (wenn auch entfernten) Verwandten besteht.

Innerhalb der Familien werden die Aufgaben des täglichen Lebens zwischen Männern und Frauen, alt und jung je nach Talent und Begabung des Einzelnen und nach dem Bedarf aufgeteilt. Praktisch alle Urierinnen und Urier haben die Fähigkeiten und das Wissen erlernt, um einen bäuerlichen Haushalt zu führen. Je nach dem, in welcher Region und Familie jemand aufwächst, erlernen Jungen und Mädchen meist zusätzlich ein bestimmtes Handwerk, meistens durch ein Elternteil oder Verwandte.

Jede Familie besitzt das nötige Ausmass an Land, Wald, Fischgründen etc., von denen sie sich ernähren. Durch Hochzeiten findet hier keine Umverteilung statt, da Mitgift normalerweise aus beweglichen Sachen (Kleidung, Haushaltsgeräte, einzelne Tiere) besteht. Die Braut zieht normalerweise in die Grossfamilie ihres Ehemannes ein. Da die Urier jedoch am liebsten innerhalb ihres Dorfes bzw. ihrer Wohnregion heiraten, bleiben die jungen Eheleute meist in der Nähe, z.T. im gleichen Haushalt wie ihre Verwandten, und die Familien sind kreuz und quer untereinander verwandt. Ledige Erwachsene leben innerhalb der Familie ihres Vaters. Wenn diese bereits zu gross ist, man sich nicht gut versteht, oder es Arbeitskräfte braucht, siedeln sie häufig in die Verwandtschaft mütterlicherseits über. Erben können sowohl Männer wie Frauen. Verheiratete erben für sich und ihre Familie, Ledige nur als Geschwisterverband. Dadurch geht das Land einer Familie nicht verloren.

Neben dem Familienbesitz gibt es in jedem Dorf oder Zusammenschluss von Weilern Allmend, Land, das von allen genutzt wird. Dazu gehören besonders auch die Burgen.

Die Bergleute

Eine Ausnahme von diesen Bräuchen bilden die Bergbaugebiete. Der Bergbau wird ausschliesslich von Männern betrieben. Die Bergleute selbst haben ein sehr respektvolles und von viel Aberglauben geprägtes Verhältnis zu den rohstoffreichen Bergen. Die Methoden des Bergbaus, vor Urzeiten von den Zwergen erlernt, werden eifersüchtig geheimgehalten. Es gilt als Verbrechen, mit einem Fremden oder einer Frau über Bergbau zu sprechen. Die Männer leben jeweils mehrere Wochen auf dem Gelände der Minen selbst, bevor sie für eine längere Pause von ein paar Tagen zu ihren Familien zurückkehren. Dort, vor Ort, werden auch die Werkzeuge hergestellt und die Rohstoffe z.T. schon bearbeitet. Die Bergbaugebiete sind öde, unfruchtbare Regionen, und die Bauernhöfe, die von den Frauen und älteren Kindern fast im Alleingang betrieben werden, liegen an den Rändern der kargen Hochtäler, immer mindestens einen Tagesmarsch von den Minen entfernt. Sie bringen selten genug Ertrag. Die Bergleute-Frauen haben sich deshalb auf einzelne Handwerke besonders konzentriert. Sie gelten als die geschicktesten Moppelzüchterinnen. Moppelfell wird von ihnen auf kunstvollste Art bearbeitet, gefärbt, und zu den unglaublichsten Gegenständen verarbeitet (z.B. die berühmten Moppeltassen). Ausserdem stellen sie Teppiche aus Schafwolle her. Da in den Bergbaugebieten eine andere Flora und Fauna vorgefunden wird als im übrigen Urien, haben die Bergleute-Frauen den Ruf, sich in Kräuterkunde und mit seltenen Tieren besonders auszukennen. Dieser Ruf ist durchaus zweideutig, denn die Bergleute sind bei den Uriern nicht gut angesehen; die Frauen gelten als wild und etwas unheimlich, die Männer als brutal und streitsüchtig.

Reichtum und Armut; Märkte, Feiern, Händler und Gastwirte

In Urien gibt es kaum Herrschende und Unterworfene, vor allem, weil alle ungefähr gleich reich bzw. arm sind. Hat jemand wirklich sehr viel Pech im Leben, so wird ihn seine Grossfamilie durchtragen. Seit sich vermehrt Urierinnen und Urier als Händler betätigen, droht dieses Gleichgewicht allerdings aus den Fugen zu geraten. Die Händler verlassen häufig ihren Familienverband, da sie ja viel unterwegs sein müssen; denn sie sind fast ausschliesslich fahrende Händler, die eine bestimmte Region mit ihrem Warensortiment versorgen. Dies tun sie vor allem auf Märkten. Diese sind bei den Uriern sehr beliebt, da sie die Möglichkeit zum Zusammenkommen und Feiern bieten. Sie finden sehr häufig statt (z.B. zu Ehren der Dreiviertelgötter, und ausserdem im Rhythmus des bäuerlichen Jahres, dazu gehören der Aussaatmarkt, der Frühlingsmarkt, der Frühsommermarkt, der Erntemarkt und der Herbstmarkt. Ausserdem gibt es immer wieder Sondermärkte wie der Moppelmarkt im September wenn die kleinen Moppel geboren werden etc.). Läden oder Kontore sind noch nicht bekannt. Durch regelmässige Reisen an die Grenze bzw. an Treffpunkte mit ausländischen Händlern werden die Vorräte aufgefüllt. Dies hat auch zu einem Aufschwung des Gastgewerbes geführt. Früher waren Gasthöfe nämlich kaum bekannt. Wollten die Urier zusammenkommen, so trafen sie sich auf dem Markt, auf jemandes Tenne zum Tanz oder in der grossen Halle einer Familie. Reisende finden entlang der Hauptstrassen Uriens durchaus « Herbergen »; das sind meist Bauerngehöfte, die ein, zwei Zusatzzimmer bereit haben und darauf eingestellt sind, jeweils für ein paar Nächte einen Gast aufzunehmen. Durch die herumreisende Tätigkeit der Händler waren die wenigen Herbergen überlastet, so dass einige geschäftstüchtige Urier angefangen haben, ehemals ungenutzte, alleinstehende Gebäude als Gasthäuser zu betreiben.

Die Händlerinnen und Händler haben in Urien einen zwiespältigen Ruf. Man wirft ihnen vor, ihre Familien im Stich zu lassen, unstete und lügnerische Menschen zu sein. Dies hat vor allem damit zu tun, das die durchschnittlichen Urier nicht verstehen können, welche Vorteile der Handel bringt. Zwar kennen sie eine Geldwährung, wollen damit jedoch einfach nur direkt Gegenstände einkaufen, die sie dann konkret in der Hand haben und benutzen. Sie sparen das Geld, für den Fall, dass sie mal nichts da haben, was sie im Tauschhandel anbieten könnten. Das Prinzip der Investition – also Geld ausgeben, Ware aufkaufen, diese dann wieder verkaufen und Geld einnehmen – ist ihnen fremd. Es ist ihnen nicht geheuer, dass sich jemand seinen Lebensunterhalt verdienen kann, ohne auf dem gemeinschaftlichen Land körperliche Arbeit zu leisten oder Gegenstände herzustellen, die in der direkten Umgebung getauscht oder verkauft werden. Tatsächlich muss auch gefragt werden, warum eine Urierin oder ein Urier den Beruf des Händlers wählt. In Wirklichkeit sind dies wohl häufig geschäftstüchtige Menschen, die es reizvoll finden, mit Gewinn und Verlust zu jonglieren und Gewinn tatsächlich zu steigern; oder solche, die Freude am Herumreisen und am Kontakt mit vielen verschiedenen Uriern und mit den Ausländern haben. Von vielen Uriern wird allerdings vermutet, sie hätten den Händlerberuf ergriffen, weil sie zu faul zum Bauern, oder zu ungeschickt für ein Handwerk seien, oder weil sie sich mit ihrer Familie zerstritten hätten und darum lieber nicht allzu häufig im heimischen Dorf seien, worin ja auch ein Körnchen Wahrheit stecken kann. Der Hauptgrund der schiefen Blicke, die die urischen Händler und Händlerinnen treffen können, ist wohl aber vor allem eins : Der blanke Neid. Denn die Händler verfügen meist über grössere Ersparnisse an in- und ausländischem Geld, zusätzlich zu Warenvorräten, Wagen und Transporttieren und dem Land, an dem sie durch ihre Familie ja immer noch Anteil haben. Sie sind also schlicht reicher als die meisten Urier. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie eine Art herrschenden Status innehaben; denn in schlechten Zeiten müssen sie häufig auf die herkömmlichen Einkommensquellen ihrer Familie zurückgreifen, und da sie eher schräg angesehen werden, zählt ihr Wort in der Gemeinschaft nicht viel.

Der Ältestenrat

Die Urier kennen keine Herrschaft. Im Alltagsleben werden Entscheide meist in der Gemeinschaft getroffen; das Wort von Männern und Frauen gilt dabei gleichviel, jedoch wird darauf geachtet, ob jemand besonders erfahren ist auf dem Gebiet, über das entschieden werden muss. Meist werden schwierige Situationen sowieso dadurch entschieden, dass man sich auf die Tradition beruft. Naturgemäss hat dadurch die älteste Generation, die auf einem Familienhof lebt, also meistens die Grosseltern, das Sagen. Diese ganz Alten leben jedoch meist nicht mehr in der Familiengemeinschaft. Die wahren Beherrscher Uriens sind nämlich die Alten, die dem Ältestenrat angehören.

Der Ältestenrat ist eine auch für die Urier geheimnisvolle Institution. Es verhält sich damit folgendermassen : Hat eine Frau oder ein Mann ein gewisses Alter erreicht, so hören sie häufig auf zu arbeiten. Sie ziehen sich oft aus der Gesellschaft etwas zurück und verbringen viel Zeit allein. Sie beginnen, von ihrer Umgebung – Menschen, Tiere, Orte – Abschied zu nehmen. Denn alle wissen : Wer alt und weise geworden ist, wird bald weggehen. Wann genau dieser Zeitpunkt kommt, lässt sich allerdings nicht genau sagen; die alte Person muss darüber Auskunft geben, ob sie das Gefühl hat, der Moment sei bald da. In manchen Gegenden Uriens wird auch von der Familie eine Abschiedsfeier abgehalten. Nach der Abschiedsfeier kann es jedoch noch Monate oder Jahre dauern, bis etwas geschieht. Eines Tages ist die alte Person dann plötzlich nicht mehr da. Ohne besonders wundersame Ereignisse, aber urplötzlich, verschwinden die Alten. Sie sind zum Ältestenrat gegangen. Dort werden sie noch einige Jahre leben und von dort aus das Geschick Uriens leiten. Niemand wird sie jedoch mehr ganz gewöhnlich antreffen oder besuchen können. Denn : Der Ort, an dem die Ältesten zusammenleben und sich beraten, ist geheim. Die Geschichtenerzähler sagen, es sei ein schöner, warmer, sonniger Ort mit bequemen Häusern;  Wichtelchen sind die Diener der Alten und helfen ihnen in allem. Es wird aber auch gesagt, die Alten lebten unter den Bergen, in grossen unterirdischen Hallen. Oder in unzugänglichen Wäldern – es gibt viele verschiedene Geschichten.

Die Urier hören in allem, was sie tun, auf den Ältestenrat. Die Alten schicken regelmässig Botschaften mit Anweisungen oder auch Tadel. Der häufigste Weg, so eine Botschaft zu erhalten, läuft über die Pilzwichtel. Diese Waldgeschöpfe tauchen in regelmässigen Abständen auf den Bauernhöfen auf und richten der jüngeren Generation aus, was die Alten ihnen raten oder zu bemängeln haben. Auf geheimnisvolle Weise scheinen die Ältesten immer auf dem Laufenden zu sein darüber, was ihr Nachwuchs gerade so treibt. Die Urier glauben, dass sie in ihrem täglichen Leben von den Pilzwichteln, aber auch von Tieren, wie z.B. bestimmten Vogelarten, beobachtet werden. Diese tragen dann ihre Berichte zum Ältestenrat.

Natürlich haben Neugierige auch schon versucht, ihrerseits die Pilzwichtel zu überwachen, um herauszufinden, wo die Alten sind oder wie das mit der Überwachung geht. Es ist aber noch keinem gelungen, und vielen ist es gar schlecht dabei ergangen, sie wurden im Sumpf in die Irre geführt und von den Wichteln ausgelacht oder ähnliches. Es ist allerdings nicht unmöglich, die Ältesten zu finden, und einige alte Geschichten berichten von Dreiviertelgöttern, denen dies in höchster Not oder unter besonderen Umständen auch gelang; denn der Ältestenrat ist durchaus real. Die meisten Urier würden es jedoch nie wagen, nach dem Ältestenrat zu suchen, denn es ist klar, dass die Alten ihre Ruhe haben wollen und selbst bestimmen, ob sie gesehen oder gehört werden oder nicht. Die Urier glauben, dass die Ältesten sehr böse werden, wenn man sie von sich aus aufsucht, und dann ihre Hilfe und Führung der Dorfgemeinschaft entziehen. Dieses Tabu wird dadurch unterstützt, dass ja anzunehmen ist, dass viele Dreiviertelgötter eigentlich noch gar nicht gestorben sind, ausser sie starben jung durch Unfall oder Krankheit, sondern als alte Leute im Ältestenrat leben. Auch sonst haben die Ältesten Fähigkeiten, die über die normaler Menschen hinausgehen. Häufig schicken sie nämlich ihre Botschaften auch, indem sie Leuten im Traum erscheinen. Mancher Urier begegnete auch schon seinem Ahnen leibhaftig, und es kam zu tränenreichen Umarmungen (oder schlimmem Tadel). Aber dies passiert auf unheimliche Art und Weise, die Alten erscheinen plötzlich wie aus dem Boden gewachsen und verschwinden wieder unauffindbar in einer plötzlich aufgetauchten Nebelschwade, oder nur ihre Stimme wird im Dunkeln gehört, aber wird ein Licht entzündet, so ist nichts zu sehen, etc.

Es gibt einige Orte in Urien, von denn die Urier vermuten, dass dort der Ältestenrat sein könnte. Der bekannteste davon ist das Kukiden-Tal in der Nähe von Urch. Solche Orte werden mit Ehrfurcht bedacht und normalerwiese eher gemieden und in Ruhe gelassen.. Meist gibt es aber in der Umgebung solcher Orte sogenannte « Gabensteine ». Bei diesen werden zuweilen, zum Beispiel, wenn es eilt, kleine Geschenke oder Botschaften an die Ältesten direkt hinterlegt. Dabei kann man jedoch nicht sicher sein, dass die Alten die Botschaft finden. Braucht ein Urier den Rat der Ältesten, so ist es deshalb üblich, in den Wald zu gehen und einen Pilzwichtel einzufangen. Diese lassen sich recht einfach anlocken, indem man ihnen einen Leckerbissen hinlegt; falls sie widerspenstig sind, tut es auch ein Netz oder eine kleine Falle. Dem Pilzwichtel trägt man dann die Botschaft an die Ältesten auf (die wenigsten Urier können schreiben). Obwohl sich die Wichtel gern sträuben beim Einfangen, darf man davon ausgehen, dass die Botschaft getreulich überliefert wird, denn die Wichtel werden von den Alten gut belohnt und böse bestraft, je nach ihrer Leistung als Boten.

Die Geschichtenerzähler

Die Religion der Urier kennt keine Priester, sondern nur gemeinschaftliche Feiern oder individuelle Götteranrufung. Ebenso gibt es keine stets präsente Herrscher. Wer sorgt denn dafür, dass diese Gesellschaftsordnung aufrechterhalten wird? Wer weiss Bescheid darüber, wie mit den Waldwesen umzugehen ist, wie man mit den Ältesten kommunizieren soll, welche Dreiviertel­götter es gibt, wie die Rituale ablaufen müssen? All dies Wissen haben die Geschichtenerzähler. Sie sind Männer und Frauen, die im ganzen Land verstreut leben; aber jedes Dorf hat mindestens einen oder zwei. Im Alltag gehen sie ihrem gewöhnlichen Gewerbe nach. Aber einen Teil ihrer Zeit verbringen sie von klein auf damit, alle Geschichten über die Dreiviertelgötter, die Geschichte Uriens, alles Wissen über die Religion und die Ältesten, von älteren Geschichtenerzählern zu erlernen. Sie sind gewöhnliche Menschen ohne besondere Fähigkeiten (ausser vielleicht einem enormen Gedächtnis und ausgeprägter Fabulierlust und Fantasie). So kommt es durchaus vor, dass sich zwei Geschichtenerzähler auch mal widersprechen oder gar streiten. Sie haben ja aber auch gar keine Macht, die Regeln und Anweisungen und Informationen, die in ihren Geschichten enthalten sind, irgendwie gewaltsam oder gegen den Willen von anderern Uriern durchzusetzen. Alles was sie tun können, ist festzuhalten und weiterzugeben, was in der Vergangenheit passiert ist. Da jedoch die Urier den Geschichtenerzählern glauben, sind sie davon überzeugt, dass es sich mit den Göttern, Ältesten etc. auch so verhält, wie diese sagen. Sie müssen also wiederum den Geschichtenerzählern glauben, weil die Ältesten und Götter dies so wollen, weil es sonst nicht möglich wäre, deren Hilfe und Anleitung zu bekommen. Da die Urier seit vielen Generationen zwar bescheiden, jedoch zufrieden leben, ist auch noch nie jemand auf die Idee gekommen, die Aussgen der Geschichtenerzähler grundsätzlich anzuzweifeln. Dies würde ja bedeuten, sich über den Willen der Ältesten hinwegzusetzen. Allerdings gab es in der Vergangenheit auch schon Veränderungen in Urien; zum Beispiel vor ungefähr 800 Jahren, als die Burgen erbaut wurden. Solches geschieht eben entsprechend dem Willen der Ältesten; und heute ist es Teil der Geschichten. Und so wird es auch in Zukunft mit allem sein, was jetzt in der Gegenwart geschieht; es werden Geschichten daraus, aus denen die Menschen dann wiederum erfahren werden, wie sie leben sollen. Die Geschichtenerzähler werden von den Uriern wegen dieser wichtigen Rolle, die sie spielen, hoch geachtet.

Die Organisation der Burgen

Die Burgen in Urien – die Frühlingsfeste, das Sommerschloss, die Maienburg und der Herbstturm – haben weder kriegerische noch herrschaftliche Bedeutung. Sie gelten als Allmend aller Bewohner der Region und dienen in erster Linie als Schutz bei der Trollbrunft, manchmal auch bei Naturkatastrophen (Stürme, Pest, und ähnliches). In der Erfahrung der meisten Urier sind sie nie etwas anderes als Orte der Fröhlichkeit, wo nach den ein, zwei unheimlichen Nächten der Trollpaarung dann das ausgelassene Frühlingsfest gefeiert wird. Trotzdem sind sich die Urier bewusst, dass sie, die kaum Waffen, Rüstungen, Soldaten oder ähnliches besitzen, nur durch die Burgen vor allem möglichen Unheil geschützt sind. Deshalb hat das Frühlingsfest auch die Funktion, alljährlich die Organisation der Burg neu zu überprüfen und sozusagen einzuüben. Jede Burg hat einen Burgverwalter oder –verwalterin. Diese Aufgabe erhält jemand durch den Willen des Ältestenrates, manchmal ist es auch eine Gruppe von Menschen. Die Burgverwaltung ist dafür zuständig, dass alle Urier, die sich in einer Burg vor der Trollenbrunft schützen wollen, einen Schlafplatz und Essen erhalten. Sie müssen auch dafür sorgen, dass alle zu diesen Vorräten beitragen, ebenso für die Beleuchtung, den Unterhalt der Burg allgemein etc. Wenn eine Burg bezogen wird, also meistens etwa 3 Tage vor der Trollbrunft, begeben sich die Verwalter auf die Burg und bereiten alles vor. Schon vorher haben sie einige kräftige junge Männer angefragt, ob sie dieses Jahr zur Burgwache gehören wollen. Am Tag, an dem die Burg bezogen wird, werden diese Burgwächter zusammengenommen, über ihre Aufgaben informiert und mit einfachem Verteidigungsgerät und Kennzeichen (Urien-Wappen) ausgerüstet; einen  Teil ihrer Ausrüstung bringen sie bereits selbst mit. Sie unterstützen während der Zeit auf der Burg den Burgverwalter dabei, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Meistens sind nur kleinere Einsätze nötig, z.B. wenn durch das ungewohnte Zusammenleben Streit oder kleine Diebstähle vorkommen. Manchmal ist es nötig, eine Panik zu unterdrücken oder sogar kleine Jäger- oder Kämpfertrupps zusammenzustellen, wenn einer Bedrohung von aussen so begegnet werden muss. Die Burgwachen sind also gewöhnliche Urier; sie beherrschen ihre Aufgabe nur so gut, wie ihnen die Burgverwalter kluge Anweisungen geben.  Meistens übernehmen die jungen Burschen diese Aufgabe gern, denn es gibt ihnen die Gelegenheit, ein paar Tage mit ihren gleichaltrigen Kameraden zusammenzusein, den Mädchen Eindruck zu machen, und sich den Wachenlohn (meist ein Fass Bier, Esswaren und etwas Geld) zu verdienen.

Wissenschaft, Medizin, Magie

Die Urier haben ein sehr grosses Wissen über alle Dinge, die in ihrem Alltag und in der Natur vorkommen. Es wird jedem Urier mitgegeben, während er aufwächst und von seinen Eltern, Nachbarn und Verwandten lernt. Es gibt einige wenige Urier, die sich darin versuchen, ein besonderes Wissen als ihren Beruf zu betreiben; z.B. Sternengucker oder Wichtelfänger (diese Berufsbezeichnung bezieht sich auf Menschen, die sich ganz allgemein besonders mit den nicht-menschlich-nicht-tierischen Bewohnern des Waldes auskennen). Für diese Art von « Handwerk » gibt es jedoch wenig Nachfrage, da die meisten Urier dieses Wissen selbst besitzen oder dann jemanden kennen, den sie fragen können; es ist also häufig eher der Nebenerwerb eines Bauern oder einfach ein besonderes Talent, für das jemand bekannt ist. Des Schreibens und Lesens sind nur die wenigsten Personen im ganzen Land kundig. Die meisten davon sind Händler, die anderen solche, die ihre Fähigkeit bei ihrem Handwerk besonders brauchen (z.B. einige wenige Zimmerleute und Baumeister, die gelernt haben, Pläne oder Ausmessungen zu zeichnen und schriftlich festzuhalten), oder die genau dieses Können als ihr eigentliches Handwerk betreiben, wie die Urkunden- und Briefe-Schreiber oder Vorleser; ausserdem beherrscht der wichtigste Grossbauer von Urch diese Kunst sowie zwei der Burgverwalter. Ähnlich verhält es sich auch mit der Fähigkeit zum Rechnen.

Die urische Medizin ist vor allem aus Alltagserfahrung gewonnene Naturheilkunde. Auch hier haben sich einige spezialisierte Handwerke entwickelt, wie z.B. Heilkräuterbauer, Zahnzieher, Salbenfrau, Ziegendoktor (jemand, der sich besonders auf die Krankheiten der Haustiere versteht) etc.  Diese Heilkunde ist sehr wirksam, jedoch stark abhängig davon, ob sich jemand gut darin auskennt, ob die entsprechenden Zutaten und Hilfsmittel vorhanden sind, und von sehr viel Geduld.

Die Urier sind sehr abergläubisch. Wenn ihnen etwas begegnet, das ihrer täglichen Erfahrung widerspricht und in den Geschichten nicht vorkommt, oder das sie noch nie gesehen haben, so reagieren sie häufig mit Schreck, Besorgnis und Ablehnung. Zu ihrer Einstellung gehört aber auch, dass sie sehr neugierig, jedoch nur wenig kritisch sind, und deshalb ungewöhnliche Ereignisse, « Wunder » oder unbekannte Wesen und Dinge sehr schnell einfach als gegeben akzeptieren, wenn sie ihnen ungefährlich oder nützlich erscheinen oder wenn man ihnen deren Dasein oder Funktion möglichst ausführlich und bilderreich erklären kann. Insofern nehmen sie vieles als « magisch » wahr, was anderen als reine Technik erscheint (manche dubiöse Urier haben auch hieraus Handwerke, wie das des Taschenspielers, entwickelt); aber vieles, was in anderen Ländern als Magie angesehen wird, gilt ihnen als ganz normal (z.B. gibt es sehr viele Geschichten über sprechende Tiere; zwar haben die wenigsten Urier so etwas je selbst erlebt, aber sie würden sich kaum darüber verwundern, wenn sie einem sprechenden Tier begegnen würden). Die Urier kennen den Begriff der « Magie » nicht; sie sagen, etwas sei « wundersam », «unheimlich » usw., wenn ihnen etwas Seltsames oder Unbekanntes begegnet. Wenn jemand in Urien ausnahmsweise einmal etwas tut, was ungewöhnlich oder unerklärlich ist, so wird dies nicht als Können oder Fähigkeit der Person angesehen, sondern als Ereignis, das mit Hilfe der Götter oder Dreiviertelgötter geschah; meist sucht man auch zuerst nach einer Erklärung « mit dem gesunden Menschenverstand ». Die Person kann dann allenfalls zum Halbgott werden. Insofern besitzt niemand in Urien magische Kräfte; einem fremden Wanderer können allerdings die Urier durch ihr Wissen und ihre Lebensart durchaus auch einmal « wundersam und unheimlich » vorkommen...

[Home]

Letzte Bearbeitung: 29.01.2003